Die Sammlung und die Reise
Diese Sammlung vereint zwei getrennte, aber miteinander verbundene Postkartensammlungen aus Deutschland. Jede nahm ihren Anfang um 1900. Gertrude Häfner, geboren im Jahre 1892 in Altendorf bei Chemnitz, Deutschland, schuf die eine Kollektion. Martin Nauke, geboren 1892 in Hirschberg, Schlesien, damals Deutschland, die andere. Es handelte sich um persönliche Sammlungen von Karten, die zu und von Häfners oder Naukes geschickt worden sind.
Beide Sammlungen wurden vereinigt, als Gertrud und Martin am 31. Dezember 1917 heirateten.
Gertrud bewahrte über 600 Postkarten in vier Alben auf und nahm sie mit sich, als sie ihr Haus in Dresden, Deutschland, im März 1927 verließ und zu ihrem Ehemann nach New York City zog. Die vollständige Sammlung blieb bei Gertrud, nachdem sie und Martin sich ein paar Jahre später trennten, auch nach der Scheidung 1938.Gertrud verließ mit ihren Kindern Elisabeth und Wolfgang und ihrer Mutter Clara New York City und zog in die Nähe ihres Bruder Max, der als Pflasterer und Maler in Huntington, Long Island, New York, lebte.
In den frühen 1960er Jahren kam Gertrud mit ihrem Sohn Wolfgang (meinem Vater) und uns nach Huntington. Das sind meine frühesten Erinnerungen an meine Großmutter und ihre Postkarten. Dann zog sie zu ihrer Tochter Elizabeth und deren Familie in die Nähe von Northport. Eine Zeit lang hatte sie ihre eigene Wohnung, ehe sie in den frühen 1970er Jahren wieder zu uns zog. Zufälligerweise kleidete ich zu der Zeit einen Kleiderschrank mit Zedernholz aus und machte ein besonderes Zedernkästchen für Gertruds Alben. Als Gertrud wieder zu ihrer Tochter zog, nahm sie nur eines der vier Alben mit. Nachdem sie sich die Hüfte gebrochen hatte, kam sie in ein Pflegeheim, wo sie 1978 starb. Das eine Album blieb bei Elizabeth und wurde von ihr an Gertruds Urenkelin übergeben.
Die Wiederentdeckung
Im Jahr 1996, nachdem meine Eltern gestorben waren, haben meine beiden Brüder und ich den Hausrat und die Hinterlassenschaften durchgeschaut. Dabei entdeckte ich zwei der Postkarten-Alben - intakt in ihrer Zeder-Box, im Zedernholzschrank. Alle Postkarten waren in gutem Zustand. Ich nahm die Postkarten mit in meine Wohnung nach New York City, nicht weit von dem Ort entfernt, an dem Gertrud gelebt hatte, nachdem sie in Amerika angekommen war. Dieses Mal sah ich die Karten mit den Augen eines Erwachsenen. Beim Öffnen der Box war ich genauso gebannt wie einst als Kind. Seltsamerweise war ich auch im Besitz des Schaukelstuhls meiner Großmutter, und ich setzte mich in diesen Stuhl, so wie ich einst mit meiner Großmutter darin saß und fing an, die Karten durchzusehen - eine nach der anderen. Meine Finger glitten darüber, als ob sie den Text lesen könnten, wie eine blinde Person, die einen Brief in Blindenschrift liest. Mein Interesse wuchs - aus Staunen wurde erst Faszination, dann Besessenheit: Ich wollte mehr über jede Postkarte, über meine Großeltern und Urgroßeltern erfahren und über die Zeiten und Orte, in und an denen sie gelebt hatten. Ich wusste, dass ich viel mehr erfahren würde, wenn ich nur den Inhalt der Karten würde lesen können.
Beginn der Reise
Jede Postkarte wurde ein Teil eines riesigen Puzzles, das, wenn es vollendet ist, ein Bild von der Familie und den damaligen Ereignisse ergeben würde. Es könnte zeigen, warum diese beiden Leute einst beschlossen hatten, alles, was ihnen vertraut war, ihre Familie und Freunde zu verlassen, um ein neues Leben in Amerika zu beginnen. Die Reise endete in Herzschmerz und Scheidung. Aus den wenigen Informationen, die ich von meinem Vater und anderen Verwandten hatte, schlussfolgerte ich, die Ursache dafür musste Jahre, oder sogar Generationen zurückliegen. Es war offensichtlich, und ist mir inzwischen klar geworden, dass einst etwas geschehen ist, das eine große Wunde in unserer Familie verursacht hat. Ein Ereignis, das von Generationen zu Generation weitergeben wurde, aber so, dass die dann lebende Generation nichts mehr vom eigentlichen Anlass wusste, sondern nur die Auswirkungen spürte. Ich musste mehr erfahren und begann, wie ein Detektiv Spuren eines uralten Falles zu suchen. Weil ich keine Briefe hatte und keine anderen noch lebenden Zeitzeugen (oder Zeugnisse aus erster Hand), musste ich die Karten lesen, um zu erfahren, welche Informationen oder Hinweise sie vielleicht enthalten. Ich fing an, die Karten wieder in die zwei ursprünglichen Sammlungen aufzuteilen - in die Nauke- und in die Häfner-Sammlung. Dann, ausgestattet mit einer Lupe, studierte ich jeden Poststempel, um die Karten chronologisch zu ordnen. An diesem Punkt wurde die Sache seltsam.
Nennen Sie es ein Wunder, Synchronität oder Zufall - es ist immer noch seltsam.
1996 - einige Monate nach dem Tod meines Vaters: Die Winterferien waren gerade vorüber und es war das erste Jahr, das ich nicht mit meinen Eltern gefeiert hatte. Ich dachte viel an sie und eines Nachts wachte ich aus einem seltsamen Traum auf. Ich hatte geträumt, dass ich zusammen mit einem Mann und einer Frau in einem Zimmer stehe und die beiden mir etwas über den Ort erzählen, aus dem meine Familie stammt. Im Traum sagte ich dem Mann, dass ich den genannten Ort nicht kennen würde. Er ging weg und kam einen Moment später zurück mit einem aufgeschlagenen Buch, das eine Landkarte zeigte. Geräuschvoll tippte er mit dem Finger auf die Seite und sagte: "Es ist hier!" Dort, wo sein Finger lag, las ich das Wort "Theisse". Am folgenden Tag sprach ich mit Kollegen über den Traum. Sie meinten, er sei wichtig und dass ich den Traum aufschreiben und den Ort "Theisse" nachschlagen sollte. Ich kam an diesem Abend nach Hause, aber noch ehe ich irgendwelche Nachforschungen anstellen konnte, rief mich jemand namens Wito an. Er sagte mir, er sei in New York, um einen Verwandten namens Nawka zu besuchen - die deutsche Version des Namens ist Nauke. Er sagte, er habe meinen Namen im Telefonbuch gefunden (die gab es damals noch). Und er fragte sich, ob wir verwandt sein könnten. Es war ein Freitag und er lud mich für Sonntag zum Lunch ein. Natürlich sagte ich zu.
Am Sonntag folgte ich seinen Anweisungen und fand mich zum ersten Mal im Gebiet Forest Hill von New York City wieder. Es war unheimlich - als kleines Kind bin ich manchmal mit meinem Vater von unserem Zuhause in Long Island in "The City" gekommen. Wir nahmen den Zug und wenn wir durch Forest Hill kamen, konnte ich die Häuser im Tudor-Stil sehen. Ich glaubte, dies seien die Häuser meiner Kinderreime und dass sie an einem magischen Ort stehen, an dem längst vergessene, geheime Schätze vergraben sind unter einem Baum, einer Straße oder einem Haus.
Ich traf Wito, seine Tante Hanka und ihre Mutter Marata in einer schönen Wohnung mit einem Klavier und vielen Bildern - Porträts und Gemälden von Menschen und Orten des einstigen Ostdeutschlands. Marata hatte Nauke in einem kleinen Dorf nahe der Stadt Bautzen (Deutschland), östlich von Dresden, zur Welt gebracht. Sie erzählten mir von der Nauke-Familie und davon, dass sie in Bautzen eine bekannte sorbische Familie seien. Als Marata Klavier spielte und sang und nahtlos zwischen Volksliedern auf Deutsch, Polnisch, Sorbisch und Russisch hin- und herwechselte, standen mir ein Mann und eine Frau vor Augen, die mir sagten, woher meine Familie kommt. Als ich Wito und Hanke fragte, wo genau Bautzen liegt, ging Wito kurz weg und kam mit einem geöffneten Buch zurück, das eine Karte zeigte. Er deutete mit dem Finger auf einen Punkt. Ich schaute hin und las den Namen des Flusses Neiße (Neisse). Es war genau wie in meinem Traum, davon abgesehen, dass das Wort "Neisse" und nicht "Theisse" war. Es war sowohl ein erschreckender als auch ein beruhigender Moment. Ich fühlte, dass ich irgendwie hierher gelenkt worden bin. Den Schatz, von dem ich als Kind glaubte, er sei hier irgendwo vergraben, befand sich hier in diesem Raum. Ich könnte nun über das leckere Mittagessen und den außergewöhnlichen Nachtisch sprechen, aber lassen Sie uns einfach an dem Punkt weitermachen, an dem Wito mich zu sich nach Ostdeutschland einlud. Er bot mir an, mir einige Plätze zu zeigen, über die wir gesprochen hatten und mir dabei zu helfen, mehr über meine Familie zu erfahren.
Zurück an den Absender
Im April 1996 reiste ich das erste Mal nach Europa, um Wito zu besuchen. Ich landete in Berlin mit ein paar Dutzend Postkarten und einigen Tausend Fragen. Nach einer kurzen Tour durch Berlin saßen Wito, seine Freundin Veronika und ich im Zug gen Dresden. Als wir am nächsten Morgen in der wundervollen Stadt Dresden ankamen, war ich der erste aus meiner Familie, der in die Geburtsstadt des Vaters zurückgekehrt ist. Die Postkarten waren somit zurück in dem Platz, von wo die meisten von ihnen abgeschickt worden waren oder wohin sie gesandt worden sind - und das nach beinahe 100 Jahren. Aber wir hatten keine Zeit, Dresden zu besichtigen, denn wir saßen kurz darauf im Zug nach Bautzen.
Und in diesen historischen Stadtmauern von Bautzen machten mich Wito und Veronika mit Menschen bekannt, die mir halfen, die Postkarten zu lesen. Ich fand es interessant und manchmal lustig, wie sich einerseits Menschen fanden, die die alte Handschrift lesen konnten und andererseits Leute, die genug Englisch sprachen, um die deutschen Texte zu übersetzen. Ein Dritter wiederum war vertraut mit den Städten und Dörfern, die in den Adressvermerken auf den Postkarten auftauchten. Zusammengenommen gaben mir die Transkriptionen und Übersetzungen Hinweise darauf, wo ich nach mehr Informationen suchen könnte. Viele Karten waren an die Familie Nauke in Schweidnitz, Niederschlesien, adressiert. Wito hatte einen Freund mit Auto und wir schmiedeten den Plan, bei meinem nächsten Deutschlandbesuch dorthin zu fahren.
Fortsetzung folgt . . .